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* *     * * Noten, Anmerkungen, Kommentare in literarischen Texten     
 
 

 

Welchen textuellen Status Noten bzw. Anmerkungen haben, ist nicht leicht zu bestimmen; zum einen gehören sie zum Text und bilden ähnlich der durch andere typographische Mittel (Klammern, Kommata, Gedankenstriche etc.) angezeigten Einschübe, Erweiterungen oder Parenthesen (integrierte Anmerkungen) einfach nur Textteile, die sich topologisch an anderer Stelle befinden (eben am Fuß der Seite, in der Marginalspalte oder am Ende des Textes). Zum anderen dienen sie häufig auch der Aufnahme des Peripheren, Ephemeren, Supplementären, Sekundären oder Vernachlässigbaren, verlassen die ›Hauptargumentation‹, schweifen ab und verletzen dadurch rhetorische Forderungen nach Klarheit und Präzision (wobei sie gerade deshalb manchmal auch gesetzt werden).

Folgt man dem Leitsatz ›Was man nicht im Haupttext unterbringen kann, braucht man überhaupt nicht zu bringen‹, gehören Noten nicht zum Text, sondern sind nur eine Zugabe, etwas Redundantes und Überflüssiges, etwas, das es zu vermeiden gilt, eine Krankheit, eine parasitäre Wucherung. Die Wahrheit liegt vermutlich in der Mitte oder wird von Fall zu Fall entschieden. Zumindest wird in der Note anders geschrieben als im Haupttext, so sind Abkürzungen zugelassen, elliptische Schreibweisen möglich und Themen verhandelbar, die im Text selbst keinen Platz hätten. Damit werden aber auch zwei unterschiedliche diskursive Ebenen eingezogen, zudem auch eine Hierarchisierung dieser Ebenen. Der Text erhielte seine exponierte Stellung, seine wertsteigernde Rahmung gerade erst durch das Auftauchen von Noten zugesprochen, ohne die topologischen »Noten-Linien oder Demarkationslinien« (Jean Paul, Schmelzle), die Position, die Verwendung kleiner Schriftgrößen oder Einrückungen wäre gar nicht ausgewiesen, wo in der Hierarchie der Dinge die Grenzen zwischen oben/unten, ephemer/essentiell, marginal/zentriert verlaufen.

Noten sind marginal, wie andere Paratexte (um Gérard Genettes Bezeichnung aufzugreifen, der ihnen eine Position zwischen Text und Paratext zuweist), damit aber nicht nur randständig, sondern auch liminal und grenzregelnd – genau an der Schwelle zwischen Leser und Text, und somit auch für seine Lektüre verantwortlich (cf. Genettes Wortspiel mit ›seuil‹, wie seine Paratexttheorie ja auch betitelt ist). Dabei lassen sich vielleicht zwei Hauptfunktionen von Noten nachweisen, Verschlankung und Anreicherung, die im Normalfall paradoxerweise auch zusammen auftreten: Während die Auslagerung von Wissenswertem in die Noten den Text schlank hält, füllt sie ihn gleichzeitig an und bläht ihn mit Wissensbeständen auf, die anderswo keinen Platz fänden. Die Note ist also ambig und läßt Dinge an den Rändern des Textes wiederkehren, die aus seinem Zentrum vertrieben wurden.

Durch Noten wird zudem bereits auf den ersten Blick gelehrtes, wissenschaftliches Schreiben angezeigt (›Wissenschaft schreibt Fußnoten‹). Die Verwendung von Fußnoten dient dabei zur Initiation und Sozialisation; erst wer sie richtig anwendet, mit allen korrekten Abkürzungen und Zitatkonventionen, ist Teil der scientific community, was fiktionale Texte, in denen Noten vorkommen, ausbeuten können (und was sie damit auch semantisch markiert). Die Verwendung von Noten, die Einbeziehung einer zweiten Stimme, Spur oder Ebene, ergibt dabei auch die Möglichkeit eines vielspurigen Schreibens bzw. einer Erweiterung der Autorinstanz, der Autor kann sich durch Selbstkommentare zu sich selbst in Beziehung setzen. Damit wird freilich auch die Labilität des Geschriebenen ausgestellt.

Die Note im fiktionalen Text ist zwar nicht auf Prosa beschränkt (Coleridges Ancient Mariner, Hallers Alpen oder Eliots Waste Land wären Beispiele aus der Lyrik, Lohensteins Tragödien oder Fieldings Tragedy of Tragedies solche für das Drama, wobei Regieanweisungen/Didaskalien, aber auch das apart-Sprechen von Figuren als Noten bzw. Anmerkungen aufgefaßt werden könnten), zentral vertreten ist die Note aber bis heute in Prosatexten. Ein geschichtlicher Überblick (cf. Grafton 1997, Connors 1998) könnte zeigen, daß die Geburt der Fußnote und das Verschwinden der Marginalnote zusammenfallen, auch wenn dies in einer 300 Jahre lang andauernden Entwicklung stattfindet. Dafür gibt es in erster Linie technische Gründe, da der Satz von Fußnoten schneller und damit billiger vonstatten geht als der von Marginalien, alsbald aber auch ästhetische (cf. Tschichold 1975 und andere Satzlehren des 19. und 20. Jhs., die auf die Intaktheit und Glätte der Textblöcke und Ränder abzielen). Genauso wie der (nichtexemplarspezifische) Index eine Errungenschaft des Buchdrucks ist (denn erst durch serielle und gleichmäßige Seitenzählung wird es möglich, einen Index für sämtliche Exemplare eines Buches zu nutzen), ist dies auch die Fußnote.

Ob ein literarischer Text Noten enthält, ist also eine Entscheidung, die Konsequenzen nach sich zieht, auch wenn die Gleichung Fußnote = gelehrtes Schreiben, fehlende Fußnote = schöne Literatur (bzw. die darüber verlaufende Unterscheidung zwischen Schriftsteller und Wissenschaftler) nicht immer glatt aufgeht. Denn dieser stilistische Effekt läßt sich auch parodieren, so daß gerade die Gelehrtensatire ein prominenter Ort der Verwendung von Noten in der Literatur war und bleibt (was sich auch in Pseudowissenschaften wie der ›Marginalistik‹ oder ›Fußnotologie‹ niederschlägt). Bei der Verwendung der Note im literarischen Text läßt sich vielleicht folgende Entwicklungslinie festhalten, die durch die Ablösung vom antik-mittelalterlichen Dichtungsverständnis und das Originalitätsphantasma des 18. Jhs. erklärbar wäre:

Während im 17./18. Jh. Gelehrtensatiren und Wissenschaftsparodien dominieren (Cervantes’ Don Quijote-Vorrede [1605], Swifts Tale of a Tub [5te Aufl. 1710; EA 1704], Popes Dunciad Variorum [1728], Rabeners Noten ohne Text [1745] etc.), gibt es im 18./19. Jh. eine Verschiebung zum komischen bzw. humoristischen Roman (Sternes Tristram Shandy, Jean Pauls Schmelzle u.a.). Zu diesem Zeitpunkt benutzen allerdings immer häufiger auch Texte Noten, die sie zum Nachweis von Quellenmaterial und anderen Belegstellen nutzen – der historische Roman des 19. Jhs. tritt mit dem Anspruch an, historische Fakten mit Fiktion zu verbinden, Wissenschaft im Roman zu treiben, imitiert damit aber auch die Verfahren des Historismus (Gibbon oder Ranke auf der einen, Scott oder Scheffel auf der anderen Seite). Die Alternative besteht darin, durch fiktive Rahmungen und Ausstellung des Materials u.a. Herausgeberfiktionen zu erhärten (wobei dies bereits früher im Briefroman anzutreffen ist, z.B. bei Richardson oder in Goethes Werther). Das 20. Jh. schließlich bietet sämtliche Verfahren, von der gelehrten Selbstannotation in Eliots Waste Land zur parodierenden Verwendung von Marginalien und Fußnoten in Joyces Finnegans Wake zu (post)modernen experimentellen Texten, die auch wieder ihre Notenhaftigkeit ausstellen (Wajcmans L’interdit oder die Texte Renaud Camus’).

   
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